Die Identität der deutschen Nordschleswiger

Die deutschen Nordschleswiger als anerkannte nationale Minderheit

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Klasse Gymn. Oberstufe
Bundeskanzler Adenauer, Bundespräsident Heuss, dänischer Ministerpräsident Hansen Foto: Deutsches Museum Nordschleswig

Die deutschen Nordschleswiger als anerkannte nationale Minderheit

Wenn man definieren will, was eine nationale Minderheit überhaupt ist, stellt sich zuerst die Frage nach der Identität der Gruppe und ihrer Angehörigen. Als Minderheit gilt nach internationalem Recht eine Volksgruppe, die auf ihrem Territorium durch eine zahlenmäßig größere Gruppe dominiert wird, dabei aber ihre Eigenheiten bewahrt und sich nicht assimiliert. Der Begriff der autochthonen Minderheit bezeichnet eine Gruppe, die schon lange in ihrem Siedlungsgebiet ansässig ist und deren Angehörige in der Regel die Staatsbürgerschaft des umgebenden Staates besitzen.

Die deutsche Minderheit in Nordschleswig wird - wie entsprechend die dänische in Südschleswig - als Bekenntnisminderheit anerkannt. Dies ist ausdrücklich in den Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29.3.1955 festgelegt worden. Konkret bedeutet dies, dass die Angehörigen selbst bestimmen, inwieweit sie sich zur Minderheit zugehörig fühlen. Ihr Bekenntnis darf von behördlicher Seite nicht angezweifelt oder überprüft werden, und sie dürfen von den Behörden nicht wegen ihres Bekenntnisses benachteiligt werden.

 

Gruppenidentität bei der deutschen Minderheit

Gesichert wird die Gruppenidentität zudem durch die 1998 in Kraft getretene Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen. Gemäß dieser ist das Deutsche in Nordschleswig keine Fremdsprache, sondern eine anerkannte Minderheitensprache. Bereits seit 1955 verfügen die Minderheitenschulen über das volle Examensrecht und werden staatlich wie andere Schulen gefördert. Nach der Charta von 1998 sollte es auch möglich sein, die deutsche Sprache u.a. bei Behörden anzuwenden und diese im öffentlichen Raum sichtbar zu machen.

Es gibt keine offizielle Definition für die Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit. Wichtige Faktoren sind u.a. die Pflege kultureller Eigenheiten, Gebrauch der deutschen Sprache und vor allem das Gefühl der Zugehörigkeit. Mögliche Wege der Sozialisation zur deutschen Minderheit sind folgende:

  • Abstammung: Bereits die Vorfahren oder ein Teil derselben haben sich zur deutschen Minderheit bzw. zur deutschen Kultur bekannt und dies an die Nachfahren weitergegeben.
  • Eingliederung: Personen, die zuvor keine Bindung an die Minderheit hatten, bekennen sich zu dieser, indem sie Identitätsmuster der Minderheit übernehmen und diese an ihre Kinder weitergeben und diese in Einrichtungen der Minderheit schicken.
  • Zuzug: Familien oder Einzelpersonen deutscher Muttersprache, die (meist aus Deutschland) in den Landesteil ziehen und sich der örtlichen deutschen Minderheit anpassen.

 

Individuelle Identität

Für Angehörige einer Minderheit stellen sich immer wieder besondere Fragen über die eigene Identität. Dies gilt sowohl für das „Ich“, also die individuelle Identität, als auch für das „Wir“, also die Gruppenidentität. Jeder Mensch ist - bewusst oder unbewusst - ständig dabei, seine Identität zu entwickeln. Besonders intensiv geschieht dies in der Jugend, wenn wir - gerade dem Kindesalter entwachsen - unseren Platz in der Gesellschaft suchen und dabei ständig darüber zu reflektieren, wer wir sind bzw. sein wollen und wovon wir uns abgrenzen wollen.

Natürlich ist Identität ein sehr vielschichtiger Begriff. Eine wesentliche Rolle spielt die kulturelle Identität: Welchem Kulturkreis fühle ich mich sprachlich, emotional, in Bezug auf Sitten und Gebräuche usw. zugehörig? Doch auch eigene Interessen (Freizeit oder Beruf), Institutionen, politische Orientierung, Familie, Umgebung, Herkunft, persönliche Charakterzüge und vieles mehr machen die individuelle Persönlichkeit und damit Identität aus.

Prägend für die deutsche Minderheit in Nordschleswig ist die Zugehörigkeit zum dänischen Nationalstaat. Dies bedeutet, dass man sich in einer dänischsprachigen Umgebung befindet, man in der Regel die dänische Staatsbürgerschaft besitzt und wesentliche Teile des Alltagslebens auf Dänisch vor sich gehen müssen. Dies stellt insbesondere junge Angehörige der Minderheit vor die Herausforderung, sich bewusst oder unbewusst damit auseinandersetzen zu müssen, inwieweit sie anders sind als die Mehrheit in ihrer Umgebung.

 

Minderheit in einer sich verändernden Welt

Man möchte zu einer bestimmten Gruppe gehören, wenn man eine Gemeinsamkeit erkennt - oder zumindest, wenn man sich nicht ausgegrenzt fühlen will, weil diese Gruppe gerade angesagt erscheint. Auf der anderen Seite möchte man sich von anderen Gruppen abgrenzen, denen man sich nicht verbunden fühlt oder von denen man sich abheben möchte.

Allerdings muss eine Gruppenzugehörigkeit nicht abgegrenzt sein. Die mehr oder weniger klare Definition der Gruppenidentität ist meist viel mehr eine Orientierungsmarke, bei der man selbst bestimmt, wie weit man an diese herangeht und wie weit man sich die Wege zu anderen Orientierungsmarken offen hält.

Wer das Gefühl bekommt, dass die Gruppe, der man sich lange zugehörig gefühlt hat, einen immer mehr einengt, wird früher oder später versuchen, aus dieser auszubrechen oder sich zumindest von ihr abzuwenden. Dies gilt besonders, wenn man sich mit dieser Gruppe isoliert fühlt, weil sie den Zugang zu anderen Zugehörigkeiten erschwert oder gar unmöglich macht.

Mehr als je zuvor ist es in der heutigen Zeit möglich, seine eigene Identität mit Hilfe vieler gesellschaftlicher und kultureller "Angebote" ganz individuell zu entwickeln. Gerade in einer wohlhabenden Gesellschaft, in welcher grundlegenden physiologische und Sicherheitsbedürfnisse praktisch durchweg gewährleistet sind, könnten soziale und individuelle Bedürfnisse vielfältig ausgelebt werden und individuell der Weg zur persönlichen Selbstverwirklichung gefunden werden. [Vgl. hierzu das Modell der Bedürfnispyramide von Abraham Maslow].

Die Kehrseite dieser Entwicklung ist allerdings auch, dass selbst Werte und Normen, die kürzlich noch selbstverständlich gewesen sind, in Frage gestellt werden und keine Stabilität mehr bewirken. Der Soziologe Anthony Giddens hat u.a. folgende Kennzeichen der heutigen spät- oder postmodernen Gesellschaft ausgemacht: Globalisierung mit zunehmender Vernetzung und Aufhebung von Zeit- und Raumdistanzen; die Auslagerung vieler sozialer Beziehungen aus dem persönlichen Nahbereich; die zunehmende Macht von Expertensystemen im Alltag und damit die verstärkte Schaffung von gesichtslosen Vertrauensbeziehungen; ein verändertes Risikoprofil durch eine sich immer schneller wandelnde Gesellschaft; eine erhöhte Reflexivität, die uns zum immer häufigeren bewussten und unbewussten Vergleichen mit anderen Individuen zwingt; eine zunehmende Individualisierung, also die verstärkte Bedeutung der Einzelperson in der Gesellschaft; eine Enttraditionalisierung, durch welche selbst bisher festgefügte Normen und Werte hinterfragt und möglicherweise aufgegeben werden.

Der Pädagoge Thomas Ziehe hat die beiden letzten Begriffe noch dahingehend erweitert, indem er von einer kulturellen Freisetzung spricht, die einem die freie Gestaltung des eigenen Lebens und damit der persönlichen Identität erlaubt; hierzu gehört allerdings auch eine Formbarkeit der Persönlichkeit, die auf äußere Einflüsse reagiert. Ziehe sieht zudem drei mögliche Reaktionsmuster in Bezug auf diese mit vielen Unsicherheiten verbundene Individualisierung, nämlich eine Subjektivierung (die Einbeziehung anderer in das eigene Gefühlsleben), eine Ontologisierung (die Suche nach einer beständigen Grundlage, z.B. in einer neuen Gruppe, Lebensweise, Haltung usw.) und eine Potenzierung (die Suche, sich deutlich über den Durchschnitt hinauszuheben).

 

Identitätsbegriffe

Es liegt auf der Hand, dass diese Veränderungen die Identitätsentwicklung stark beeinflussen. Dies gilt im besonderen Maß für die Angehörigen von Minderheiten. Der Soziologe Thomas Hylland Eriksen hat drei Modelle entwickelt, welche die Identitätsentwicklung einer Minderheit - autochthon wie eingewandert - erklären können. Diese werden allerdings auch kritisiert, da sie von sehr klar abgrenzbaren (z.B. nationalen) Identitätsmustern ausgehen, was in der Realität - und gerade in Bezug auf die deutsche Minderheit in Nordschleswig - längst nicht so einfach erscheint.

Eine „reine“ Identität liegt demnach vor, wenn die Minderheitsangehörigen versuchen, ihre eigene Identität von jener der Mehrheitsgruppe klar abzugrenzen und sich umso mehr auf die Normen, Werte und Eigenheiten ihrer Kultur konzentrieren. Nimmt man jedoch Teile der Mehrheitsidentität an, ohne die Minderheitsidentität aufzugeben, und lebt diese Identitäten in verschiedenen Arenen, wird von einer Bindestrich-Identität gesprochen; ein typisches Zeichen hierfür wäre, dass man sich in Dänemark Deutsch fühlt und in Deutschland Dänisch, oder man zu Hause Dänisch spricht und in der Schule deutsch. Für den Fall, dass man die verschiedenen Identitätsmuster miteinander vermischt, wird der Begriff der kreolischen Identität angeboten.

 

Minderheit als Mehrwert

Die genannten Begriffe lassen vermuten, dass die Identitätsbildung für Angehörige von Minderheitengruppen eine besondere Herausforderung darstellt. Doch gerade die Globalisierung und Internationalisierung hat Minderheitengruppen wie den deutschen Nordschleswigern neue Chancen eröffnet. Heute wird die Zugehörigkeit nicht mehr als „entweder-oder“ Frage definiert, sondern man betont in Bezug auf die Umgebung das „sowohl als auch“ und lehnt eine scharfe Abgrenzung ab. Da die Angehörigen der Minderheit automatisch auch mit der dänischen Umgebungssprache und -kultur aufwachsen, entwickeln sie eine erweiterte Sprach- und Kulturkompetenz.

Neben individuellen beruflichen Vorteilen werden diese Kompetenzen vermehrt als Stärkung der Region und wirtschaftlicher Standortvorteil für diese und damit auch für die Mehrheitsbevölkerung betrachtet. Auch deshalb wird es in einer Region wie Nord- (und Süd-)Schleswig als gesamtgesellschaftliche Aufgabe angesehen, die Minderheiten zu fördern.